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Mathematische Modelle: Die Natur des Kriegs

Foto: FABRIZIO BENSCH/ REUTERS

Konfliktforschung Die Mathematik des Krieges

Forscher haben die Natur bewaffneter Konflikte ergründet - und eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Die Angriffe von Aufständischen und Terroristen folgen einem klaren mathematischen Muster. Die Gesetzmäßigkeit gilt nicht nur für Kriege, sondern auch in der Biologie.

Mal trifft es US-Soldaten, mal Deutsche, mal libanesische Zivilisten. Irgendwo explodiert eine selbstgebastelte Bombe, ein Selbstmordattentäter sprengt sich in die Luft, und es gibt Tote. In den Nachrichten folgt routinierte Berichterstattung. Wir leben im Zeitalter der asymmetrischen Kriegsführung - ohne feste Fronten, aber dafür mit vielen verschiedenen Gegnern. Und alle haben ihre eigenen Pläne. Was für ein Chaos, könnte man glauben. Doch in Wahrheit ist es anders.

Eine neue Studie zeigt, dass Guerillakrieg und Terrorattacken offenbar Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die mit denen der Natur vergleichbar sind. Ein interdisziplinäres Forscherteam hat die Verluste der Koalitionstruppen in Afghanistan und im Irak sowie Anschläge des internationalen Terrorismus detailliert untersucht. "Dank der modernen Medien haben wir diese Zahlen auf Tagesbasis", erklärt der britische Physiker und Studienleiter Neil Johnson. Johnson, der als Professor an der University of Miami lehrt, gilt als Experte für die Analyse komplexer Systeme.

Mathematische Konstanz

Die Auswertungen zeigen eine bemerkenswerte mathematische Konstanz: Schon aus dem Beginn der Kampfhandlungen lassen sich Rückschlüsse auf deren späteren Verlauf ziehen. Wie schnell in Zukunft zwei Tage mit tödlichen Angriffen aufeinander folgen ist abhängig vom Zeitraum zwischen dem allerersten und dem zweiten Tag des Konflikts, an denen auf Seite der Angegriffenen Verluste zu beklagen waren. Je kürzer das Intervall zwischen den beiden ersten fatalen Attacken, desto schneller steigt die Erfolgsquote der angreifenden Kämpfer.

Den Wissenschaftlern ist es sogar gelungen, diese Beschleunigung in eine relativ einfache Formel zusammenzufassen. Diese enthält einen Wert b, einen Exponenten, der gewissermaßen die Effektivität von Gegenmaßnahmen wiedergibt. Die Details haben die Forscher im Wissenschaftsjournal "Science"  veröffentlicht. Man könnte das Entwicklungsmuster als "asymmetrische Eskalation" bezeichnen, meint Neil Johnson. Einen offiziellen Begriff gibt es indes noch nicht.

Mit Blick auf die Bundeswehrtruppen im Norden Afghanistans lässt die Studie nichts Gutes erahnen: "Die Steigungskurve wird leider auch auf diese Region zutreffen", betont Johnson. Es sei denn, es findet irgendein radikaler Umschwung statt. Ein kurzer Blick auf die vorliegenden Zahlen scheint dem Physiker recht zu geben. Zwischen dem ersten tödlichen Angriff auf deutsche Soldaten in Kunduz am 19. Mai 2007 und dem zweiten am 27. August desselben Jahres lagen 99 Tage. Bei den letzten beiden betrug die zeitliche Distanz nur noch vier Tage (28. Mai und 2. Juni 2011).

Mit Mechanismen aus der Biologie vergleichbar

Erstaunlicherweise geht das Rechenmodell nicht nur für die Kämpfe in unterschiedlichen Provinzen Afghanistans auf, sondern auch für die früheren Auseinandersetzungen im besetzten Irak und sogar für die Anschläge verschiedener Terrorgruppen. Und das, obwohl die Verbände kaum Kontakt zueinander haben dürften. Des Rätsels Lösung, erklärt Johnson, müsste somit in der Natur dieser Konflikte selbst liegen. "Etwas sehr Eigenartiges verbindet sie."

Auf der Suche nach dieser Gemeinsamkeit folgten die Wissenschaftler einer ungewöhnlichen Idee. Sie begannen, Vergleiche mit bekannten Mechanismen aus der Biologie zu ziehen und wurden bald fündig. Die Eskalation verläuft anscheinend nach dem Prinzip der Anpassung und Gegenanpassung, einer der treibenden Kräfte der Evolution. Fachleute bezeichnen dies als "Red-Queen-Effekt", benannt nach einer Figur aus Lewis Carrolls Buch "Alice hinter den Spiegeln". Die Rote Königin ist eine Schachfigur, die Alice über ein Feld zerrt und sie dabei ermahnt, immer schneller zu laufen: "Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst."

Unter Biologen heißt das: Eine Spezies muss ihren Gegnern immer einen Entwicklungsschritt voraus bleiben, um sich behaupten zu können, denn der andere versucht mindestens genauso schnell nachzuziehen. Es ist der ewige Wettlauf zwischen Räubern und Beutetieren, Parasiten und Wirten. Wenn Tauben schneller fliegen können, müssen die Falken es ihnen gleichtun, sonst verhungern sie. Ähnliches gilt im Krieg, meinen Johnson und Kollegen. Dass die hochgerüsteten westlichen Armeen bei diesem Vergleich meist die Rolle der Beute übernehmen, dürfte so manchem Befehlshaber gar nicht gefallen.

Gute Kämpfer bestimmen das Tempo des Wettlaufs

Der Erfolg von Aufständischen und Terrorgruppen ist vor allem von Übung abhängig, glaubt Johnson. "Learning by doing." Das gelte sowohl für die Angriffsstatistik wie auch für den Bau von Bomben. Wenn die Kämpfer gut sind, bestimmen sie praktisch alleine das Tempo des Wettlaufs. Ihre eigenen Verluste spielen dabei meist nur eine untergeordnete Rolle. Der Gegner, der "Blaue König", wie Johnsons Team ihn nennt, hat das Nachsehen. Er läuft der Entwicklung hinterher. Der "Blaue" kann sich vielleicht einigeln, verliert dann aber in der Fläche leicht die Kontrolle. Ob eine massiv gesteigerte Militärpräsenz ein geeignetes Gegenmittel ist, bleibt offen. Im Irak, während des sogenannten "Surge" - der Gegenoffensive - der US-Amerikaner, wurden die Zeitintervalle zwischen erfolgreichen Angriffen der Aufständischen wieder länger. Die Eskalation wurde gestoppt.

Die Studienergebnisse von Johnsons Arbeitsgruppe ließen sich durchaus in der militärischen Praxis anwenden, wenn die Forscher mehr Daten zu Taktik und Strategie der westlichen Koalition hätten. Angaben zu Truppenverteilung, Aktivitätsrhythmen und Einsatzrouten könnten darauf hinweisen, welche Schwächen Taliban und Co. ausnutzen. Solche Informationen werden den Wissenschaftlern aber vorenthalten. Aus Sicherheitsgründen.

Könnte das Modell womöglich bereits während der Antike Gültigkeit besessen haben, standen die römischen Legionen bei Aufständen etwa unter demselben Druck wie heute die westliche Koalition am Hindukusch? Wahrscheinlich schon, meint Johnson. "Das war grundsätzlich dieselbe Situation, es gab Räuber, und es gab Beute." Kleine, agile Angriffsgruppen und guerilla-ähnliche Taktiken entwickelten sich schließlich schon damals. "Sie lernten, wie man immer wieder Stückchen aus einem sehr großen Gegner herausreißt."

Für die klassischen Kriege galten indes andere Grundsätze. So traten Napoleons Truppen normalerweise en masse und in offenen Schlachten gegen ähnlich zahlenstarke Heere an.

Neil Johnson möchte seine Theorie möglichst bald auch an anderen Konfliktformen testen. Interessant dürfte zum Beispiel die Entwicklung von Hackerangriffen auf große Firmen und staatliche Institutionen sein. "Darüber versuche ich zurzeit Daten zu sammeln." Doch auch hier steht wieder die Geheimhaltung im Weg. Sogar seine eigene Universität hält Informationen über Attacken auf ihrem Computernetzwerk bislang unter Verschluss, klagt der Forscher. Weniger Schwierigkeiten wird ihm vielleicht ein ganz anderes Sicherheitsorgan bereiten: das menschliche Immunsystem. Es sei denkbar, dass auch unsere körpereigene Abwehr in der Auseinandersetzung mit Krankheitserregern gegen die asymmetrische Eskalation ankämpfen muss, so Johnson.