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Quelle: RP 27.01.2010
"Lassen Sie die Soldaten nicht im Stich"
Ein einsatzerfahrener Bundeswehr-Hauptmann beschreibt in einem offenen Brief an die Kanzlerin, was sich seine Kameraden in Afghanistan für ihre gefährliche Mission wünschen. Anlass ist Angela Merkels Regierungserklärung zur bevorstehenden Afghanistan-Konferenz in London.
"Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
erinnern Sie sich noch an die erste Afghanistan-Konferenz? Sie fand vor über acht Jahren auf dem Petersberg bei Bonn statt. Ziel war es damals, das von den Taliban geschundene Land am Hindukusch in eine bessere Zukunft zu führen, nachdem seine Menschen fast dreißig Jahre durch die Hölle gegangen waren. Friedlich sollte es werden und vor allem demokratisch. Vom Wiederaufbau war fortan stets die Rede und von den Herzen und Köpfen der Afghanen, die es zu gewinnen galt.
Nun wird es also wieder einmal eine solche Konferenz geben, die sechste! Diesmal in London. Und wieder einmal sind die Absichten gut und werden die Worte im Anschluss hoffnungsfroh sein. Die Bilanz des Einsatzes im Januar 2010 ist hingegen verheerend.
Keines der damals formulierten Ziele wurde erreicht. Die Taliban sind auf dem Vormarsch, die Effekte des viel zu zögerlichen Wiederaufbaus verpufft. Die Wahlen im Land waren nichts als eine Farce, und die Afghanen wenden sich in Scharen enttäuscht von uns ab. Auch der ehemals ,ruhige Norden', das Einsatzgebiet der Bundeswehr, ist zur Kampfzone geworden. Raketenangriffe auf die Feldlager, schwere Gefechte mit den Aufständischen und immer wieder diese verdammten Selbstmordbomber. Sechsunddreißig unserer Soldaten kamen in Särgen aus dem Einsatz zurück – sind gefallen. Weit über hundert Kameraden wurden in den letzten Jahren teils schwer verwundet. Wie kann man all dies nicht als Krieg bezeichnen?
Doch trotz aller Verluste, aller Entbehrungen und allen Schmerzes geben unsere Soldaten nicht auf. Wenn die Offiziere am frühen Morgen den Befehl zur Ausfahrt aus dem Feldlager geben, wissen sie nicht, ob all ihre Männer und Frauen den Tag heil überstehen werden. Sie befehlen es dennoch – weil es ihr Auftrag ist. Und die Soldaten? Sie folgen dem Befehl. Weil sie unserem Land einen Eid geschworen haben – genau wie Sie, Frau Bundeskanzlerin.
In London sind wohlklingende Absichtserklärungen fehl am Platz. Es ist nun Zeit für Taten. Die deutschen Soldaten brauchen dringend Verstärkung. Nicht nur militärische, aber auch die. Es geht um Panzer, Hubschrauber, Artillerie und mehr Personal. Seien Sie gewiss, dass Sie all dies in verantwortungsvolle Hände geben. Doch mindestens genau so wichtig sind all die anderen Komponenten des Einsatzes, die oft beschworen, aber nie konsequent umgesetzt wurden. Mehr Geld und mutige Helfer, die den Wiederaufbau endlich konsequent und koordiniert vorantreiben.
Die Afghanen brauchen eine Perspektive. Mehr Ausbilder, die den afghanischen Sicherheitskräften eine Chance geben, irgendwann ohne uns zu bestehen. Dem muss eine mutige und ehrliche Anerkennung der Realität am Hindukusch vorausgehen. Auch müssen die einst erklärten Ziele neu definiert und nach unten korrigiert werden, so unpopulär es auch klingen mag. Viel Zeit wurde vertan, doch vielleicht ist es noch nicht zu spät, das Ruder in Afghanistan herumzureißen. Die Soldaten der Bundeswehr wünschen sich dies schon lange.
Eine Garantie auf Erfolg gibt es nicht. Die gibt es im Krieg nie. Aber im Interesse aller bisher erbrachten Opfer und unserer eigenen Sicherheit in der Heimat lohnt es sich, noch einmal alle Kräfte zu bündeln, politische Grabenkämpfe, ob im In- oder Ausland, zu ignorieren und den Soldaten in Afghanistan zu helfen, in ihrem bisher schwersten Kampf zu bestehen.
Was Verbündete und Koalitionspartner von Ihnen fordern, ist unerheblich. Einzig das Notwendige darf Ihre Entscheidungen beeinflussen. Lassen Sie die Soldaten der Bundeswehr nicht im Stich. Es sind auch Ihre Soldaten, Frau Bundeskanzlerin.
Ihr Marc Lindemann"