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Quelle: http://www.zeit.de/2010/10/DOS-Kundus

Afghanistan

Das Kundus-Syndrom

Wer verstehen will, warum Oberst Klein die Nerven verlor und den Luftschlag vom 4. September 2009 anordnete, der muss die anderen Kommandeure im Bundeswehrlager von Kundus kennenlernen: Soldaten, die an ihrer unlösbaren Aufgabe scheiterten

Wo, fragt sich mancher Soldat, ist das zivile Gegenstück zum Militär? Wo sind deutsche Richter, deutsche Polizisten?

Um kurz nach sechs an einem Sonntagmorgen, als der Krieg gerade eine Pause macht, schnürt Kai Rohrschneider seine Stiefel und läuft hinüber zur Kantine des Feldlagers. Drei Grad, dichte Wolken. Von den Bergen hinter den Mauern des Camps sieht er nichts, noch liegen die Ausläufer des Hindukusch im Nebel. Rohrschneider öffnet die Tür zur Kantine, nimmt sich einen Becher Tee und setzt sich an einen der langen Tische.

Noch drei Stunden, dann werden sie kommen.

Kundus im ausgehenden Winter 2010: Draußen vor den Toren des Bundeswehrlagers werden Rohrschneiders Soldaten in immer neue Fallen gelockt, Männer mit Panzerfäusten lauern ihnen auf, mit Sprengladungen und Maschinengewehren. Taliban ermorden Kinder und erzählen in den Dörfern, die Deutschen hätten sie auf dem Gewissen. Afghanische Polizisten, von den Deutschen ausgebildet, verkaufen ihre Uniformen an die Gegner. Wer Feind ist und wer Freund, kann niemand mehr sagen. An keinem anderen Stützpunkt in Afghanistan ist die Bundeswehr derart in der Defensive.

Gut sichtbar liegt das deutsche Lager auf einem Hochplateau, rund 500 Meter im Quadrat, Hunderte Soldaten in Zelten, dicht an dicht, ein gutes Ziel. Kai Rohrschneider weiß das, aber er hat gelernt, sich behutsam auszudrücken. Er sagt: »Ich habe eine spannende Aufgabe.« Er ist Kommandeur des deutschen Feldlagers Kundus, Befehlshaber des 21. Kontingents. »Der 21. Versuch«, sagen seine Soldaten.

Wenn Rohrschneider in seinem Büro vom Schreibtisch aufblickt, sieht er in die Gesichter der früheren Kommandeure, gerahmt in Gold hängen sie dort, auch Oberst Georg Klein, der Mann, dessen Gesicht jetzt ganz Deutschland kennt. Er ließ in der Nacht vom 4. September 2009 zwei Tanklaster bei Kundus bombardieren. Bis zu 142 Menschen starben, unter ihnen Kinder. Der Generalinspekteur der Bundeswehr musste deswegen gehen und der ehemalige Verteidigungsminister. Die Welt sprach von einem deutschen Kriegsverbrecher.

Sollte Rohrschneider nervös sein, kann er das gut verbergen, geschliffene Sätze sind seine Spezialität. Er ist Träger des Ehrenkreuzes der Bundeswehr in Gold und Silber. Sollte er Kundus überstehen, wird er wahrscheinlich General. Er darf nur keinen Fehler machen. Ein Fehler, das ist alles, was es in die Nachrichten schafft: tote Zivilisten, deutsche Särge.

Noch zweieinhalb Stunden, dann wird der Besucher da sein. Der Gouverneur.

Als sich die Deutschen entschlossen, ihre Armee in den Norden Afghanistans zu schicken, war Kundus ein angenehmer Ort, die wohlhabende Kornkammer des Landes, Bad Kundus nannten die deutschen Soldaten es. Als Rohrschneider im Oktober 2009 hier ankam, erinnerte nichts mehr daran. Jedes halbe Jahr schickt die Bundeswehr einen neuen Kommandeur, und jedes Mal erbt er von seinem Vorgänger eine aussichtslosere Lage. Jetzt naht wieder der Tag des afghanischen Neujahrsfestes, der 21. März. Danach werden die Taliban aus ihren Winterquartieren in Pakistan zurückkehren und die deutschen Soldaten heftiger bekämpfen denn je. Nirgendwo sonst auf der Welt kommt der Terrorkrieg des 21. Jahrhunderts der Bundeswehr so nahe. Nirgendwo sonst hängt so viel von einem deutschen Kommandeur ab.

Rohrschneider läuft ins Stabsgebäude 1, Sicherheitszone, summende Stahltürschlösser mit wechselnden Zugangscodes. Gleich noch die Morgenlage, um acht, danach wird der Gouverneur vorfahren. Gewöhnlich ist er pünktlich.

Muhammad Omar kommt mit einem ganzen Konvoi. Auf den Ladeflächen der Pick-ups stehen Männer mit Kalaschnikows, über ihren Bäuchen hängen Patronengürtel. Das Schild mit dem Hinweis »Hier gilt die Straßenverkehrsordnung« sagt ihnen nichts, sie können nicht lesen. Vor dem Ehrenmal, an dem Messingschilder mit den Namen der gefallenen Bundeswehrsoldaten angebracht sind, bleiben die Autos stehen. Der Gouverneur springt aus seinem teuren Geländewagen und läuft ins Stabsgebäude. Rohrschneider begrüßt ihn mit einer Umarmung. Security meeting nennen die Deutschen das hier, Sicherheitstreffen.

Wie kostbar Sicherheit ist, weiß kaum jemand besser als Muhammad Omar. Früher war er Mudschahed, wegen einer Verletzung seines rechten Auges trägt er meist eine Sonnenbrille. Als er vor fünf Jahren von der Regierung in Kabul zum Gouverneur von Kundus ernannt wurde, hatte er noch zehn Leibwächter. Dann wurde sein Lieblingsbruder von den Taliban erschossen, und er verdoppelte auf 20. Inzwischen sind es 30. Der Gouverneur prahlt damit, dass er 26 Söhne von vier Frauen habe, und wenn ihm danach ist, lädt er den deutschen Kommandeur ins beste Hotel der Stadt zum Essen ein. Manchmal schreibt er Briefe an den Vertreter des Auswärtigen Amtes im Feldlager, verlangt die Verschönerung des Parks vor seiner Residenz, einen Bewässerungsgraben im Garten, eine neue Mauer. Dann läuft der Mann aus Berlin mit einer Tasche los und bringt dem Gouverneur 20.000 Dollar in Scheinen. Man könnte denken, er sei einer von Muhammad Omars vielen Dienstboten.

Jetzt hebt der Gouverneur zu einem mürrischen Vortrag an, den niemand zu unterbrechen wagt, nicht der Mann vom Bundesnachrichtendienst, nicht der Mann vom Auswärtigen Amt, keiner der Offiziere. Der Gouverneur sagt, die Deutschen müssten aggressiver werden. Ohne die Milizen, die für sie die nördlichen Gebiete kontrollierten, wären sie verloren. Er sagt: Die Milizenführer verlangen Bezahlung, sonst laufen sie weg. »Gebt ihnen was!«

So spricht er oft mit den deutschen Kommandeuren.

Der Gouverneur erteilt dem Polizeichef das Wort, der dann über Hühnerdiebe redet. Am Ende kommt Kai Rohrschneider dran. Der Gouverneur ruft ihn auf wie einen Schuljungen. Die Milizenführer bezahlen? Kriegsfürsten? Das würde in Deutschland niemand verstehen. Man müsse die Milizen erst in »staatliche Strukturen« eingliedern, sagt Rohrschneider. Vielleicht würde er gerne antworten wie ein Milizionär, barsch und entschieden, aber Rohrschneider muss reden wie ein Politiker. Er muss ins Ungefähre ausweichen.