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Meyer betastet die verstörende Realität, sie beginnt beim Führungsstab in seinem eigenen Feldlager. Es gibt keine aktuelle Analyse der militärischen Lage, die letzte ist zwei Jahre alt. Alle Berichte über militärische Operationen werden pflichtschuldig zum Einsatzführungskommando in Geltow bei Potsdam geschickt. In Kundus findet Meyer nur wenige sortierte Daten, kein Archiv, nichts. Sein Feldlager ist ein Ort ohne Gedächtnis.
Meyer bezahlt afghanische Informanten, die dasselbe Wissen bereits an seine Vorgänger verkauft haben. Die Soldaten bleiben nur ein paar Monate, dann kommt schon das nächste Kontingent. Und das Einsatzführungskommando bei Potsdam lässt Meyer freie Hand. »Eine Führung existierte gar nicht«, sagt Meyer in die leere Gaststube hinein.
Doch von Tag zu Tag entfernt sich Afghanistan mehr von dem Land, in dem Meyer bloß die Stabilität erhalten sollte. Aus Pakistan dringen Taliban ein, und in den Dörfern nahe dem deutschen Feldlager werden Flugblätter verteilt: Wer mit den Ungläubigen zusammenarbeitet, wird sterben. Auf einem Acker wird ein Feldarbeiter gefunden, der den Deutschen Informationen lieferte, hingerichtet mit 60 Schüssen. Irgendwann spricht sich herum: Auf Meyers Kopf sind 50.000 Dollar ausgesetzt.
Im Lager gehorcht weiterhin alles der deutschen Ordnung. Es gilt die Zwei-Dosen-Regel beim abendlichen Bier in einer Lagerkneipe, die Lummerland heißt. Es gilt die deutsche Haar- und Bartordnung, alles unterliegt einem Plan. Meyer hält sich an ihm fest wie ein Ertrinkender. Er hat sich viel mit Taktik beschäftigt, in taktische Schachzüge kann er sich verlieben, und wer die Taktik liebt, der hasst den Fehler. Begehen Soldaten Fehler, spricht Meyer gleich von »absoluten Fehlern«. Immer öfter brüllt er seine Leute an: »Ich will Soldaten, keine Pfadfinder!« Als Soldaten draußen versehentlich ein Scharfschützengewehr mit Nachtsichtgerät liegen lassen, ist er außer sich: »Was ihr hier macht, ist Murks!« Das ist von nun an sein Satz.
Meyer will seinen sauberen Einsatz vor dem schmutzigen Krieg retten. Deswegen lehnt er es ab, mit afghanischen Warlords zu verhandeln, die sich ihm als Partner anbieten. Einen von ihnen, der sogar eine Isaf-Zugangskarte für das Lager besitzt, lässt Meyer aus dem Camp werfen. Einige Offiziere versuchen Meyer davon zu überzeugen, Kompromisse zu machen, aber er bleibt bei seiner Linie.
Nur sieben Wochen nach Meyers Antritt im Lager droht die Lage zu eskalieren: Ein afghanischer Polizist, der von den Deutschen ausgebildet wurde, wird ermordet, mit 30 Schüssen. Dem Bürgermeister eines Dorfes bei Kundus wird einer seiner Söhne vor die Tür gelegt, tot, mit aufgeschnittener Kehle. Es geht jetzt nicht mehr um Lagerhallen für Zwiebeln, und Meyer findet keine Antworten mehr in seinem Konzept. Seine Soldaten können keinen Guerillakrieg führen, sie dürfen es nicht. Bei seinen Vorgesetzten fordert er gepanzerte Fahrzeuge an. Er will seine Soldaten schützen vor dem Überfall der Wirklichkeit.
Da erfährt Meyer, dass einer seiner Hauptfeldwebel von einer Bombe in Stücke gerissen worden ist. Er saß in einem schlecht gepanzerten Geländewagen, als er den Kundus-Fluss durchquerte. Oberst Meyer ist blind vor Wut.
Er hatte seinen Brigadegeneral Jürgen Weigt in Masar-i-Scharif vor genau dieser Gefahr gewarnt. Und er hatte gefordert, dass Weigt ihm endlich die besser geschützten Fahrzeuge nach Kundus bringen lasse, die längst genehmigt waren. Doch der General, sagt Meyer, hielt diese Wagen für seine Besucher in Masar-i-Scharif zurück, für Politiker und Journalisten. Am Telefon gifteten sich die beiden an, Meyer wurde wieder laut. Und jetzt wird die Leiche eines Soldaten in den Kühlcontainer des Feldlagers verladen. Würde der Mann noch leben, wenn Brigadegeneral Weigt auf Meyer gehört hätte?
Meyer verbeißt sich in diese Vorstellung, kämpft gegen den eigenen General, gegen Soldaten, die er immer öfter zusammenschreit, gegen die Aufständischen in den Bergen, gegen das Misstrauen der Afghanen in den Dörfern, die mit Meyer von neuen Straßen träumten, nun aber plötzlich deutsche Soldaten in schwer gepanzerten Mungos und Dingos auf sich zurollen sehen. Meyers friedenssichernder Einsatz ist zu einem Mehrfrontenkrieg geworden.